Warum sind wir so unfreundlich?


Oder: Hallo, Freund, Geh Jetzt Bitte

Von Jane Meyerding, Mitarbeit von of KB, Patty Clark, and Marla Comm.
Copyright © 1998 by the authors. Unauthorisierte Weitergabe und Wiedergabe untersagt.
Übersetzung: Diana Leineweber, mit freundlicher Genehmigung von Jane Meyerding



Ich war immer ein wenig amüsiert von der Tatsache, daß ich so häufig "unfreundlich" erscheine. So weit ich mich zurückerinnern kann, haben andere Leute mir (schlußendlich) gesagt, daß wenn sie mich träfen, ich immer auf sie sehr "unnahbar" und unfreundlich wirken würde. Ihre anschließende Schlußfolgerung, wenn sie genügend Zeit mit mir verbracht haben um zu sehen, was ich selber als die Basis der Freundlichkeit meiner Natur sehe, ist, daß ich "schüchtern" sein müsse.

Große Neuigkeit: Ich bin nicht schüchtern. Ich bin autistisch.

Der Grund, warum ich ich darüber jetzt schreibe ist, daß ich einen Weg brauche, meinen Freunden verstehen zu helfen, warum ich so oft möchte, daß sie mich alleine lassen. Genauer, ich fühle die Notwendigkeit zu erklären, warum ich so oft aus dem Gleichgewicht gerate durch ihre bloße Anwesenheit, selbst wenn sie ihr Bestes geben, mich nicht aufzuregen.

Ich habe um Hilfe für dieses Projekt gebeten von ein paar Erwachsenen, die ebenfalls auf dem "Spektrum" sind, und die ich aus dem Internet kenne. Mit ihrer Erlaubnis nutze ich einige ihrer Ideen, sowie auch meine eigenen.

KB schrieb: "Ich vergleiche unsere geringe Toleranz für soziale Kontakte mit der schnellen Ermüdung eines Legasthenikers durch das Lesen. Es ist schwierig für uns, zu interagieren, und unsere neurale Maschinerie hat an dieser Stelle Defizite. Es passiert leicht, daß wir uns übernehmen. Einfach ausgedrückt: Ich bin für den sozialen Kram einfach nicht richtig verdrahtet."

Eine Art die Sache zu sehen ist, mit anderen Worten ausgedrückt, auf dem autistischen Spektrum zu sein bedeutet, eine soziale Lernstörung zu haben. Die meisten von uns ziehen es vor, unseren Autismus zu sehen als "anders sein", als als "Behinderung", aber es ist untrüglich wahr, daß unsere Andersartigkeit aussieht und sich anfühlt wie eine Behinderung gemessen (und defizitär abschneidend) im Vergleich mit den generellen sozialen Normen.

Patty Clark meinte: "Es gibt nur eine bestimmte Menge an sensorischem Input und Aufmerksamkeit dem gegenüber was außerhalb von uns selber stattfindet, die wir an einem Tag aufbringen können. Weil die neurale Maschinerie, die die Sinne integriert und Geschehnisse in der äußeren Welt identifiziert, nicht korrekt arbeitet, müssen wir wesentlich mehr Anstrengung aufbringen um zu sprechen und zuzuhören, Fragen zu beantworten, etc. als 'normale' Menschen. Mehr Anstrengung hat auf uns denselben Effekt, wie auf jeden Anderen auch - wir erschöpfen. Wenn wir erschöpft sind, arbeiten wir weniger effizient, insbesondere wenn es um darum geht, aufmerksam auf äußere Reize zu achten und zu reagieren. Aus diesem Grunde brauchen wir notwendigerweise lange genug Zeit für uns selbst um uns zu erholen von der Erschöpfung mit Menschen und anderen Aspekten der Welt außerhalb unseres Körpers umzugehen.

"Wenn jemand darauf besteht länger um einen zu sein als angenehm wäre, ist es dasselbe wie jemanden wachzuhalten lange nachdem er normalerweise ins Bett gegangen wäre, oder ein Kind mit Hausaufgaben zu überladen, oder irgendeine andere Sache, die 'nette' Leute niemals tun würden. Aber sie glauben, es sei in Ordnung uns bis zur völligen Erschöpfung zu treiben, nur weil sie lange Zeit auf einmal in unserer Gesellschaft sein wollen. Nur jemanden um sich zu haben erschöpft sie nicht oder bringt sie dazu schreien oder heulen zu wollen, sie glauben allen Ernstes, daß diese Erfahrung gar nicht diesen Effekt auf uns haben kann.

"Sie irren sich. Wir können es einfach nicht tragen, ohne daß unsere persönlichen Grenzen niedergetrampelt werden, und unser Bewußtsein und unser Körper überlastet wird. Wenn wir sagen, 'Ich hatte genug Besuch', dann wird ein wahrer Freund lächeln und 'Auf Wiedersehen' sagen und ein andermal wiederkommen, wenn wir in der Lage sind, ein bißchen mehr Gesellschaft zu ertragen.



Dies ist die Essenz der Sache, aber ich bin mir nicht sicher wie gut diese beiden Erklärungen für nicht-autistische Menschen nachvollziehbar sind. Vielleicht hilft ein konkretes Beispiel: Eine Freundin kam rüber, um die Außentreppe bei mir zu streichen. Sie dachte sie täte damit etwas Gutes und Nettes, und sie dachte außerdem, es sei sehr überlegt von ihr, daß sie meine Anwesenheit oder Aufmerksamkeit nicht bräuchte. Tatsächlich aber, außerachtlassend, ob ich die Treppe gestrichen haben wollte oder nicht, hat sie einen ziemlichen Stress in meinem System verursacht.

Sie mußte mir einige Fragen stellen: Wo ist der Besen? Wo sind die Haus- und Außenhähne? Einfache Fragen, die nur wenige Sekunden brauchen um gestellt, und beantwortet zu werden. Sie zählte die Zeit zusammen, die für diesen Austausch erforderlich war und schlußfolgerte, daß sie mich unmöglich zu einem signifikanten Grad gestört haben könnte.

Dennoch nahm das was sie tat einen großen Teil meines Tages in Anspruch. Noch wichtiger, es nahm einen großen Teil eines sehr wichtigen Zeitraumes meines Tages in Anspruch, des Zeitraumes, der 'mein' hätte sein können, des Zeitraumes, wo ich weder auf der Arbeit sein muß oder anderweitig an Aktivitäten teilnehmen muß, die mich anderen Menschen aussetzen oder die andere Menschen involvieren. Von der Sekunde an, in der sie anrief sie käme rüber, bis zu dem Moment in dem sie wieder ging und außer Sichtweite war: All diese Zeit war für mich verloren. Es war nicht meine Zeit, sondern "soziale" Zeit.

Zusätzlich zu der Zeit und Aufmerksamkeit die ich aufwenden mußte, um ihre Fragen zu beantworten, mußte ich noch mit der Schwierigkeit fertig werden, meinen Fokus ständig zwischen meinen eigenen Gedanken, dem Beantworten ihrer Fragen und dann wieder zurück zu meinen eigenen Gedanken zu wechseln. Nicht-autistische Menschen nehmen wahrscheinlich die Fähigkeit "umschalten" zu können für selbstverständlich, wechseln von einem Fokus zum nächsten ziemlich schnell und unbewußt. Viele autistische Menschen finden dies schwierig und sehr ermüdend.

Es hat nichts damit zu tun wie gut sie mit mir befreundet ist, mit ihr zusammen zu sein ist nicht dasselbe wie alleine zu sein. Im selben Haus mit ihr zu sein (oder im Haus zu sein, wenn sie in der Nähe ist und jederzeit entscheiden könnte meine Aufmerksamkeit zu beanspruchen) ist einfach nicht dasselbe, wie ganz alleine zu sein.

Und ich brauche es alleine zu sein. Nicht einfach nur "nicht gestört". sondern allein.

"Soziale" Zeit (Zeit, die mit irgendwem verbracht wird) ist eine Art Arbeit für mich, ob ich nun "auf der Arbeit" bin, oder mit einer befreundeten Person zu Hause bin, und ich brauche immer viel Zeit alleine um mich zu erholen. Was anderer Leute mentale/emotionale Batterien wieder auflädt, bedeutet für meine Stress (für die von Autisten).

Hier ein weiteres Beispiel. Ich habe eine Weile darüber nachgedacht, daß ich meinen Paß wirklich erneuern lassen sollte, hauptsächlich auch, weil der Tag immer näher rückte, an dem ich ihn nicht mehr einfach per Post würde erneuern lassen können. In der Hoffnung, mir einen Gang zum Amt ersparen zu können, druckte ich die nötigen Formulare aus dem Internet aus und hatte alles beisammen um die Postweg-Erneuerung zu machen, abgesehen von den zwei kleinen Paßbildern. Einfach zu bekommen, nicht wahr? Nun - nein.

Einen unbekannten Ort dieser Art zu finden, auszuwählen und aufzusuchen ist eine größere Sache für mich. Es ist Arbeit. Es verbraucht eine Menge Energie. Insbesondere dann, wenn das, was ich brauche nicht etwas Wohlbekanntes ist, wie ein Apfel, den ich finden und alleine aufheben kann. Dies war etwas, wofür ich Worte und Sätze zusammensetzen mußte, mit denen ich nachfragen konnte, etwas, daß von mir verlangt, sozial zu interagieren mit einem Fremden. Verbal zu interagieren verlangt fast augenblickliche Wechsel in der Aufmerksamkeit, auf die Fragen der anderen Person zu reagieren und schnell genug zu antworten, um die Konversation lebendig und "normal" zu halten.

"Ich habe mich nicht dazu gekriegt" für über einen Monat, weil das bloße daran Denken mich schon erschöpft hat. Schlußendlich ist meine hilfsbereite Freundin weggefahren für einen 10-Tag Urlaub. Sie ist eine Person die ich mag und die mir wichtig ist, jemand dessen Freundschaft ich wirklich sehr wertschätze. Außerdem verlasse ich mich sehr und in vielem auf sie, wenn es um nicht-autistische Fähigkeiten geht. Manchmal rede ich von ihr als "Die Person die mir Plätze bringt,", denn mit ihr komme ich dazu viele Orte zu besuchen und viele Dinge zu tun, die ich alleine weder schaffen, noch je versuchen würde. Ich vermute, wenn jemand unsere Freundschaft von außerhalb untersuchen würde, er würde denken, daß sie mir mehr gibt als ich ihr gebe.

Was ein Außenstehender nicht sehen kann ist, wieviel sie auch von mir nimmt. Das ist nicht ihr Fehler, natürlich. Ich kann ihre Gegenwart wesentlich einfacher tolerieren als die irgend jemand anderen, weil sie auch gewillt ist, daran zu arbeiten, und wir haben inzwischen auch für über 20 Jahre daran gearbeitet.

Nichts desto trotz ist es wahr, daß nachdem sie für fast eine Woche weg war, ich die Energie in mir selber gefunden habe, daß ich in der Lage war diese Paßphotos mit einer beeindruckenden Leichtigkeit erledigt zu bekommen. Fast so, als sei es nichts. Meine Freundin gibt mir eine ganze Menge. Was sie nimmt (ohne es zu wollen) ist meine Energie.

Mit ihr zu interagieren (auch angenehm) verbraucht, wie Patty sagt, eine bestimmte Menge der sensorischen- und anderen Aufmerksamkeit die ich zu Verfügung habe für diesen Tag. Mit ihr zu reden, oder auch nur mich in dem Modus zu halten, der mir erlaubt adäquat auf sie zu reagieren, wenn sie fragt wo der Besen sei, erschöpft mich, so als wenn ich legasthenisch wäre und sie jede Minute ihrer Gegenwart ununterbrochen "lesen" müßte.

"Adäquat" zu reagieren ist eine Sache, in der Autisten ziemlich schlecht sind, wenn man die Termini der NT (Neurotypischen) verwendet. Einige von uns (mich eingeschlossen) können es - für eine zeitlang. Solange bis wir erschöpft sind, oder einfach fertig.



Für einige von uns sind die Einschränkungen extremer. Marla Comm, eine kanadische Autistin zum Beispiel, ist unfähig, soziale Freundschaften zu bilden, unfähig schon alleine dies zu wollen. Sie erklärt ihre Situation: "Jemand, der eine Menge Hilfe braucht, aber es sich nicht leisten kann, jemanden dafür zu bezahlen und auch keine finanzielle Unterstützung für Behinderte in Anspruch nehmen kann hat niemanden, den er um Hilfe bitten kann außer Freunden und Verwandten. Wenn Du Hilfe mietest, dann bezahlst du dafür mit Geld. Wenn Du staatliche Hilfe bekommst, dann zahlst Du nicht direkt (Deine Steuergelder zahlen), aber es erwartet immer noch niemand von Dir der helfenden Person irgendetwas dafür zu geben. Freunde jedoch, die freiwillig helfen, erwarten etwas zurück dafür. Sie erwarten eine wechselseitige Beziehung, die auf Geben und Nehmen basiert.

"Das ist etwas, daß ich einfach überhaupt nicht kann. Unfähig mir private Hilfe oder Qualifikation für Dienste leisten zu können, bin ich schon unzählige Male aufgefordert worden, einen guten Freund zu finden, der mir helfen kann. Als eine sehr nichtsoziale Autistin, bitte ich niemals Freunde um irgendetwas, aber das Letzte was ich tun würde wäre eine Beziehung zu versuchen mit jemandem, um zu versuchen auf diese Weise Hilfe zu bekommen. Ich bin mir nur zu bewußt, daß eine solche Beziehung Dinge von mir verlangen würde, die mich zu Tode stressen würden. Aus diesem Grund verschwende ich an eine solche Idee auch gar keinen Gedanken. Es ist jetzt schon so, daß egal in welcher Gruppe ich mich finde wegen meines Jobs oder meiner Lebenssituation bezahle ich einen hohen Preis - mehr Erkältungen, andere Stress-induzierte Gesundheitsbeschwerden, und schlimmer noch, mehr destruktive Launen."



Jeder von uns lernt Kompromisse einzugehen zwischen der Gesellschaft und unserer eigenen Natur, jeder von uns wird unterschiedliche Level möglicher sozialer Interaktion finden, zu verschiedenen Zeitpunkten unseres Lebens. Aber niemand von uns, die wir auf dem autistischen Spektrum sind, wird je in der Lage sein "normal" zu sein, verglichen mit den Normen der NT (Neurotypischen) Mehrheit. wir sind nicht mit Absicht "schwierig". Unsere Leben sind schwierig gemacht, weil die Erwartungen anderer Leute unserer Realität, wie wir die Welt erleben, entgegenlaufen und manchmal diese auch angreifen.

Genausowenig können wir es als selbstverständlich betrachten mit all den anderen Leuten auf dem autistischen Spektrum gut klarzukommen. Obwohl dieser Text von und über nicht-soziale Autisten ist, so sind da doch ein paar Menschen auf dem Spektrum die genauso, wenn nicht gar sozialer sind als die meisten NTs (neurotypische Menschen). Diese sozialen Autisten teilen mit uns die Unfähigkeit die sozialen Signale zu "lesen", die enthalten sind in dem großen Teil der NT Kommunikation, der non-verbal abläuft (Körpersprache, Gesichtsausdrücke, Schlußfolgerungen darüber, was Worte und Phrasen bedeuten wenn sie in einem speziellen Zusammenhang gesagt werden oder anderweitig nicht wörtlich gemeint sind, etc.). Als Resultat ist es nicht nur sehr wahrscheinlich, daß sie in viele soziale "Fettnäpfchen" treten, sondern auch, daß sie für viele nicht-soziale Autisten ein größeres Problem darstellen, als ein reservierter NT es wäre. Ein Autist mit einer hohen sozialen Orientierung, der wahrscheinlich viel Ablehnung erfahren hat und nach Freundschaft giert, kann für uns schwieriger zu begreifen und mit umzugehen sein als eine höfliche Person, die neurotypisch ist, und von Autismus nicht den blassesten Schimmer hat.


Eine Woche nachdem meine Freundin zurück war von ihrem Urlaub, fragte sie mich ob ich depressiv sei. Nein, ich sei nicht depressiv sagte ich ihr. "Einfach grummelig, dann," sagte sie, als ob sie die Antwort auf eine Frage gefunden hätte. Was sie sah war mein "Mangel an Affekt." Für sie reagierte ich nicht mit dem angemessenen Enthusiasmus auf sie. Ich versagte, meine NT-Maske anzulegen, versagte, meine NT-Imitation in Komplettheit aufzuziehen. Ich war nicht depressiv, ich agierte einfach "autistischer" als ich normalerweise tue, wenn sie um mich ist.

Verständlicherweise mögen Freunde es nicht, wenn man ihnen sagt "Geh weg, ich brauche jetzt ein wenig das Alleinsein." Niemand mag das Gefühl, für jemand anderen ein Stressfaktor zu sein. Aber eine unwiderlegbare Tatsache beim Autismus ist es, daß es uns an der Fähigkeit mangelt, mit anderen Menschen zu interagieren, so daß es uns "füllt", und nicht stresst. Das macht einen großen Teil des Autismus aus. Und selbst diejenigen von uns, die es schaffen als normal oder fast-normal "durchzugehen" in mehr oder weniger Bereichen unseres Lebens, selbst wir müssen unsere Freunde bitten, uns so zu akzeptieren, wie wir nun mal sind.


übersetzt von: Diana Leineweber,
mit freundlicher Genehmigung von Jane Meyerding