Das Muster von Fähigkeiten und Entwicklung von Mädchen mit Asperger Syndrom
Dr Tony Attwood September 1999

Die überwältigende Mehrheit, für die ein Antrag auf Diagnosenstellung für Asperger Syndrom vorgelegt wird sind Jungen. Das Anzahlverhältnis von Jungen zu Mädchen beträgt etwa 10:1, obwohl Studien zur Epidemiologie/Verbreitung von Störungen, die dem autistischen Spektrum (ASD = Autistic Spectrum Disorders) angehören, ergeben haben, daß das Verhältnis 4:1 sei. Aus welchem Grund also werden Mädchen weniger wahrscheinlich identifiziert mit den Charakteristiken, die für Asperger Syndrom typisch sind? Das Folgende sind einige vorläufige Vorschläge, die noch durch akademische Forschungen bestätigt werden müssen, aber sie enthalten einige plausible Erklärungen, basierend auf vorherige, klinische Erfahrung.

* Es zeigt sich, daß viele Mädchen mit Asperger Syndrom dasselbe Profil der Fähigkeiten aufweisen wie Jungen, aber eine subtilere, oder weniger starke Ausprägung der Charakteristiken. Eltern mögen unwillig sein, ihrer Tochter eine Diagnose stellen zu lassen, wenn sie einigermaßen gut zurechtkommt, und Ärzte, die in den entsprechenden Kliniken arbeiten, mögen zögern, eine Diagnose zu stellen, es sei denn, die Anzeichen sind deutlich sichtbar vom normalen Maß des Verhaltens und der Fähigkeiten zu unterscheiden.

* Wir haben ein Klischee von typisch weiblichem und typisch männlichem Verhalten. Mädchen sind eher in der Lage, ihre Emotionen zu verbalisieren, und reagieren mit geringerer Wahrscheinlichkeit körperlich aggressiv auf negative Emotionen, wie Verwirrung, Frustration und Ärger. Wir wissen nicht, ob dies eine kulturelle oder eine naturgegebene Charakteristik ist, aber wir können erkennen, daß Kinder, die sich aggressiv verhalten, mit größerer Wahrscheinlichkeit für eine Diagnosestellung vorgeführt werden, um zu entscheiden, ob das Verhalten von einer spezifischen Entwicklungsstörung herrührt, und um Ratschläge zu erhalten, wie mit diesen Verhaltensweisen umgegangen werden soll. Jungen mit Asperger Syndrom werden also häufiger einem Psychologen oder Psychiater vorgestellt, weil ihre Aggressivität für ihre Eltern und Lehrer Grund zur Besorgnis gegeben hat. Eine Folge dieser Neigung ist, daß nicht nur mehr Jungen diagnostiziert werden, sondern auch, daß Kliniker und Akademiker einen falschen Eindruck der Häufigkeit von Aggressivität in dieser Bevölkerung bekommen können.

* Man muß immer die Persönlichkeit der Person mit Asperger Syndrom bedenken, und wie sie mit den erfahrenen Schwierigkeiten bezüglich sozialen Verständnisses, Empathie und kognitiver Erkenntnis zurechtkommt. Einige Individuen sind offen aktive Teilnehmer in gesellschaftlichen Situationen. Ihr ungewöhnliches Profil an Fähigkeiten in solchen Situationen ist offensichtlich. Wie auch immer, einige sozialisieren nur widerwillig mit anderen, und ihre Persönlichkeit könnte man als ‘passiv’ beschreiben. Sie können sehr geschickt darin werden, ihre Schwierigkeiten zu tarnen, und klinische Erfahrungen haben ergeben, daß die passivere Persönlichkeitsstruktur bei Mädchen die verbreitetere ist.

* Jede Person mit Asperger Syndrom entwickelt ihre eigenen Techniken und Strategien um zu lernen, sich bestimmte Fertigkeiten anzueignen, und Mechanismen, dem Leben gewachsen zu sein. Eine Technik ist es, praktische Unterweisung und moralische Unterstützung von seinesgleichen zu erhalten. Wie wir wissen, provozieren Kinder mit Asperger Syndrom bei anderen Kindern entweder stark bemutterndes, oder ‘Räuber-Beute’-Verhalten. Wenn die natürliche Gleichaltrigengruppe einer Person Mädchen sind, dann ist es wahrscheinlicher, daß sie von der Mehrheit der Kameradinnen unterstützt und miteinbezogen wird. Deshalb werden Mädchen mit Asperger Syndrom häufiger ‘bemuttert’ von anderen Mädchen. Diese werden dem Kind auf die Sprünge helfen, wenn es unsicher ist, was es in sozialen Situationen tun oder sagen soll, und es trösten, wenn es verstört ist. Im Unterschied dazu sind Jungen notorisch intolerant Kindern gegenüber, die anders sind, und neigen eher zu einem ‘räuberischen’ Verhalten ihnen gegenüber. Dies kann einen unglückseligen Effekt haben auf das Verhalten von Jungen mit Asperger Syndrom, und viele klagen darüber, geneckt, ignoriert oder fertiggemacht zu werden von anderen Jungen. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, daß einige Jungen mit Asperger Syndrom es vorziehen, mit Mädchen zu spielen, die oftmals freundlicher und toleranter sind als ihre männlichen Altersgenossen.

* Der Autor hat Training sozialer Fertigkeiten sowohl individuumsbezogen als auch in Gruppen geleitet bei Mädchen und Jungen mit Asperger Syndrom. Die Erfahrung hat gezeigt, daß Mädchen im Vergleich zu Jungen mit entsprechender intellektuellen Leistungsfähigkeit, im Allgemeinen motivierter sind soziale Fertigkeiten zu erlernen, und auch rascher Schlüsselkonzepte verstehen. Darum haben sie möglicherweise eine bessere Langzeitprognose bezüglich der sich steigernden Flüssigkeit ihrer sozialen Kompetenz. Dies mag erklären, warum Frauen mit Asperger Syndrom oft weniger auffällig sind, als Männer mit dem Syndrom, und weniger wahrscheinlich vorgeschlagen werden für eine diagnostische Überprüfung. Des weiteren ist dem Autoren aufgefallen, daß Mütter mit Asperger Syndrom im Allgemeinen mehr ‘mütterliche’ und empathische Fähigkeiten zu haben scheinen mit ihren Kindern, als Väter mit Asperger Syndrom, die große Schwierigkeiten erleben können, ihre Kinder zu verstehen und mit ihnen umzugehen.

* Einige Personen mit Asperger Syndrom können ziemlich erfinderisch darin sein, Imitation und Nachahmung zur Tarnung ihrer Schwierigkeiten in gesellschaftlichen Situationen zu verwenden. Eine Strategie, die von vielen Mädchen und einigen Jungen genutzt wird, ist es, sozial besonders gewandte Menschen zu beobachten, und ihre Angewohnheiten, Stimme und Persönlichkeit zu kopieren. Dies ist eine Form sozialer Echolalie oder Spiegelung, bei der die Person sich eine oberflächliche soziale Kompetenz aneignet, indem sie den Part einer anderen Person schauspielert. Besonders deutlich wird dies in Liane Holliday-Willeys fesselnder neuer Autobiographie, mit dem Titel: ‘Pretending to be Normal’ (Vortäuschen Normal zu sein).

„Ich konnte in der Welt teilnehmen als ein Beobachter. Ich war ein begieriger Beobachter. Ich war gefesselt von den vielen Nuancen der Handlungen von Menschen. In der Tat fand ich es oft wünschenswert, die andere Person zu werden. Nicht in der Weise, daß ich bewußt versucht habe das zu erreichen, sondern es kam eher als etwas, daß ich einfach tat. Als ob ich in dieser Hinsicht gar keine Wahl hätte. Meine Mutter erzählt mir, daß ich sehr gut darin war, die Essenz und Persönlichkeit anderer Menschen einzufangen. In jener Zeit kopierte ich buchstäblich Jemanden in Aussehen und Handlungen. Ich war unheimlich in meiner Fähigkeit, Akzente zu kopieren, Stimmeigentümlichkeiten, Mimik, Gestik, Bewegungsabläufe und minimale Gesten. Es war, als würde ich zu der Person werden, der ich nacheiferte. (S.22)

Mädchen werden mit größerer Wahrscheinlichkeit angemeldet für Sprach- und Theatergruppen, und dies ermöglicht eine ideale und sozial anerkannte Möglichkeit um Körpersprache zu lernen. Viele Menschen mit Asperger Syndrom haben ein ungeheures Gedächtnis, und dies kann auch das Rezitieren der Dialoge von allen Charakteren eines Stückes beinhalten, oder das Einprägen eines Dialogs oder ‘Textbuch-Textes’ für Konversationen im wirklichen Leben. Das Textbuch, das ‘Skript’ zu kennen bedeutet auch, daß das Kind sich keine Sorgen darüber zu machen braucht, was es sagen soll. Schauspielen kann später zu einer erfolgreichen Karrieremöglichkeit werden, obwohl einige Verwirrung entstehen kann, wenn Erwachsene mit Asperger Syndrom eine andere Person im realen Leben nachspielen, da dies fehlinterpretiert werden kann als multiple-Persönlichkeit-Störung, und nicht gesehen als konstruktiver Mechanismus, mit Asperger Syndrom umzugehen.

* Wenn ein Kind sich mehr Freunde wünscht, aber sichtlich wenig Erfolg in dieser Hinsicht, dann ist eine Möglichkeit die, sich Phantasiefreunde zu erfinden. Dies geschieht häufig bei kleinen Mädchen, die sich Freunde visualisieren, oder Puppen als Ersatz für wirkliche Menschen benutzen, wenn sie für sich alleine spielen. Mädchen mit Asperger Syndrom können Phantasiefreunde erfinden und Puppenspiel entwickeln, was oberflächlich dem Spiel anderer Mädchen ähnelt, dennoch gibt es verschiedene qualitative Unterschiede. Ihnen fehlt häufig die Gegenseitigkeit in ihrem natürlichen Sozialspiel, und können zu stark darauf bedacht sein, das Spiel zu kontrollieren, wenn sie mit Gleichaltrigen zusammen sind. Dies zeigt sich an Liane Holliday-Willeys Autobiographie.

Spaß machte es, Dinge aufzustellen und zu dekorieren. Vielleicht war es dieser Wunsch, die Dinge lieber zu ordnen, als damit zu spielen, der Grund dafür, daß ich nie großes Interesse an meinen Spielgefährten hatte. Sie wollten immer nur die Dinge benutzen, die ich so sorgfältig plaziert hatte. Sie wollten umstellen und verändern. Sie ließen mich nicht meine Umgebung kontrollieren.

Wenn ein Mädchen beschäftigt ist in einem Einzelspiel mit Puppen, hat es totale Kontrolle, und kann das Spiel lenken und dirigieren ohne Unterbrechung, und ohne Vorschläge von Anderen akzeptieren zu müssen. Das Skript und die Handlungen können fast perfekte Reproduktionen eines wirklichen Geschehnisses, oder einer Szene aus Buch oder Film sein. Während ein eventuelles Spezialinteresse, Puppen zu sammeln, und mit ihnen zu spielen möglicherweise angenommen wird als altersangemessene Aktivität, und nicht als Anzeichen einer psychischen Störung, so ist dennoch die Dominanz und Intensität des Interesses ungewöhnlich. Spielen und Reden mit Phantasiefreunden und Puppen kann auch fortgesetzt werden bis in die Jugendjahre, wenn man von der Person erwarten würde, über solche Beschäftigungen hinauszuwachsen und reifer zu sein. Dieser Aspekt kann fehlinterpretiert werden als ein Hinweis auf Halluzinationen und Wahnvorstellungen, und zu einer Diagnose für Schizophrenie führen, anstatt Asperger Syndrom.

* Die bekanntesten Spezialinteressen von Jungen mit Asperger Syndrom sind verschiedene Verkehrs/Transportmittel (Eisenbahn-,Luft-,Schiffsverkehr,...)und spezielle Bereiche von Wissenschaft und Elektronik, insbesondere Computer. Inzwischen ist es eine recht verbreitete Reaktion unter Klinikern, zu bedenken, daß ein Junge mit einem enzyklopädischen Wissen in einem dieser Bereiche Asperger’s Syndrom haben könnte. Mädchen mit Asperger Syndrom können natürlich an denselben Themenbereichen interessiert sein, aber klinische Erfahrung zeigt, daß ihre Spezialinteressen auch Tiere oder klassische Literatur sein können. Diese Themenbereiche werden nicht typischerweise assoziiert bei Jungen mit Asperger Syndrom. Das Interesse an Tieren kann fokussiert sein auf Pferde oder einheimische Tiere, und diese Charakteristik wird einfach abgetan als typisch für Mädchen dieses Alters. Jedoch sind Intensität und qualitative Aspekte des Interesses ungewöhnlich. Jugendliche Mädchen können auch eine Faszination für klassische Literatur entwickeln, wie die Dramen von Shakespeare und Gedichte. Beide besitzen einen wesentlichen Rhythmus, den sie als mitreißend empfinden, und einige entwickeln schriftstellerische Fertigkeiten und eine Faszination an Wörtern, die sie zu erfolgreichen Autoren, Poeten oder Literaturakademikern machen. Einige Erwachsene mit Asperger Syndrom untersuchen zur Zeit die Werke berühmter Schriftsteller auf Hinweise für das ungewöhnliche Erleben und Verstehen, das mit Asperger Syndrom in Verbindung gebracht wird. Ein Beispiel sei die Kurzgeschichte ‘Cold’ aus ‘Elementals: Stories of Fire and Ice’ von A. S. Byatt.

* Schlußendlich hat der Autor festgestellt, daß einige Damen mit Asperger Syndrom ungewöhnlich sein können im Klang ihrer Stimme. Ihr Klang erinnert an den viel jüngerer Personen, fast mit einer kindlichen Qualität. Viele sind beunruhigt über die physiologischen Veränderungen während der Pubertät, und ziehen es vor, die Charakteristiken der Kindheit beizubehalten. So wie auch Jungen mit Asperger Syndrom, sehen auch sie möglicherweise keinen Sinn darin, modisch zu sein, ziehen praktische Kleidung vor, und benutzen weder Deodorants noch Kosmetika. Letztere Charakteristik kann sehr auffallend sein.

Diese vorläufigen Erklärungen für die gezeigte Unterrepräsentation von Mädchen mit Asperger Syndrom müssen noch überprüft werden durch objektive Forschungen. Es ist klar, daß wir mehr epidemiologische Studien brauchen, um die wahre Häufigkeit bei Mädchen festzustellen, und für Forschung bezüglich der klinischen Anzeichen, kognitiven Fähigkeiten und Anpassungsverhalten um eine Untersuchung dar quantitativen und qualitativen Unterschiede zwischen den Geschlechtern mit einzubeziehen. In der Zwischenzeit werden Mädchen mit Asperger Syndrom weiterhin übersehen werden, und nicht den Grad an Verständnis und Mitteln erhalten, den sie benötigen.

 

übersetzt von: Diana Leineweber,
mit freundlicher Genehmigung von Dr. Tony Attwood

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