Die Autismus Epidemie: Einbildung oder Wirklichkeit?

Dr. Tony Attwood

August 2000

 

Original veröffentlich in Autism Asperger’s Digest . November/Dezember 2000 Ausgabe. 
Für weitergehende Informationen über diesen Digest:  www.autismdigest.com

     Asperger Syndrom wurde ursprünglich beschrieben schon 1944, aber als tiefgreifende Entwicklungsstörung und Teil des autistischen Spektrums wurde es erst kürzlich akzeptiert. Aus diesem Grunde haben wir nur wenige Studien über die Natur und Verbreitung dieses Syndroms um zu bestimmen, ob die steigende Anzahl von *Fällen* einfach aus dem vermehrten Wissen über das Syndrom, oder eine echte Epidemie ist. Ein nützlicher Startpunkt ist es, die verschiedenen Arten zu einer Diagnose zu gelangen zu beleuchten und ob spezielle Faktoren dazu führen, daß mehr Kinder und Erwachsene mit Asperger Syndrom diagnostiziert werden.

     In meinem Buch über Asperger Syndrom, stellte ich sechs Arten dar, zu einer Diagnose zu kommen. Die erste ist die der Diagnose des klassischen Autismus in der frühen Kindheit. Das Kind war möglicherweise ruhig und sozial unnahbar im Alter von drei Jahren, aber durch die Vorteile intensiver früher Interventionsprogramme, entwickelt es sich entlang des autistischen Kontinuums bis zu dem Punkt, an denen die Beschreibungen Hans Aspergers eher als die Leo Kanners das Profil der Fähigkeiten des Kindes akkurat erfassen.

     Unsere Forschungen zum klassischen Autismus könnten einige dieser Faktoren erklären, die zum Anstieg der Anzahl solcher Kinder zu führen scheinen. Zum Beispiel zeigte die Forschung der 80er Jahre ein erhöhtes Risiko für Autismus bei steigendem Alter der Mutter bei der Geburt auf. Ind der gegenwärtigen westlichen Gesellschaft, tendieren Frauen immer mehr dazu, die Mutterschaft herauszuzögern, um ihre Qualifikationen zu beenden und Karriere zu machen. Eine andere interessante Überlegung ist daß die Auswanderung von geographisch weit entfernten Kulturen mit Autismus in Verbinund gebracht werden kann. Eine Erklärung dafür kann das Immunsystem mit einbeziehen, und das Wissen aus Studien darüber, daß Autismus eine Konsequenz von bestimmten Infektionen während der Schwangerschaft und frühen Kindheit sein kann. Flugreisem in exotische Länder ist viel preiswerter geworden und erfreut sich steigender Beliebtheit. Wie auch immer, es besteht ein erhöhtes Risiko an exotischen Infektionen zu erkranken. Außerdem gibt es eine Debatte darüber, ob gewisse Gifte in unserer modernen Gesellschaft eventuell die Entwicklung des Gehirns beeinflussen, oder angeborene Irrtümer des Metabolismus begünstigen, die in Autismus resultieren. All diese Faktoren können zu einem echten Anstieg des Autismus führen, und durch die Effekte der frühen Interventionsprograme eben auch zu einer erhöhten Anzahl von Diagnosen für Asperger Syndrom.


     Der zweite Weg ist die Feststellung der charakteristischen Signale, wenn das Kind in die Schule kommt. Möglicherweise gab es vorher keine anzeichen für klassischen Autismus ind den Vor-Schuljahren, aber der Lehrer stellt ein abweichendes Profil der Fähigkeiten des Kindes fest und äußert die Vermutung nach einem eventuellen Asperger Syndrom. Dann erst wird das Kind für eine Diagnose vorgestellt. Diese Prozedur sollte schnurstracks verfolgt werden, was aber nicht immer der Fall ist. Relevantes Wissen und Erfahrung unter den Klinikern ist notorisch variabel. Es gibt nur wenige professionelle Trainingskurse über diagnostische Prozeduren, was zu einem potentiellen Mangel an Validität und Verlässlichkeit einer Diagnose führt. Dasselbe Kind kann einmal diagnostiziert werden mit Asperger Syndrom, während ein anderer Kliniker oppositionelles Trotzverhalten mit Anzeichen einer Zwangsstörung diagnostiziert.

     Außerdem gibt es einige Nicht-Übereinstimmung bezüglich der Diagnosekriterien. Die Kriterien des DSM IV (die am häufigsten genutzten Kriterien) sind von der Forschungsliteratur als "inadäquat", "nicht umsetzbar" und nicht die originalen Fälle der Studie von Hans Asperger beschreibend bezeichnet worden. Einige Kliniker und Akademiker haben nun die differentiellen Kriterien bezüglich der 'normalen' kognitiven Fähigkeiten, Sprache, Neugier, und Selbst-Hilfe-Fertigkeiten verlassen, wie auch die Bestimmung, daß 'Autismus diagnostiziert wird, wenn die Kriterien für Autismus als auch Asperger Syndrom voll erfüllt sind. Diese 'Eriweiterung' der Kriterien wird unausweichlich zu einem Anstieg der Anzahl an Menschen führen, denen Asperger Syndrom siagnostiziert wird.

     Wir sind außerdem unsicher wo man die Linie ziehen sollzwischen den unteren und den oberen Leveln des Ausdrucks. Sollten Kinder mit einer intellektuellen Behinderung von der Diagnose ausgeschlossen werden? Kliniker sind darüber sehr gespaltenener Ansicht, so daß einige Individuen mit einem IQ über 60 von einigen mit Asperger Syndrom diagnostiziert werden, während andere diese diagnostische Option ausschließen auf der Grundlage des IQs der Person. Außerdem gibt es noch die Sache, ob man den Terminus High Functioning Autismus oder eher Asperger Syndrom verwendet. Gegenwärtige Forschungen versuchen zu bestimmen, ob es signifikante Unterschiede gibt zwischen Individuen bei denen ein High Functioning Autismus festgestellt wurde im Gegensatz zu solchen mit Asperger Syndrom, wie er von den DSM IV Kriterien festgelegt ist. Es mögen vielleicht unterschiede auftauchen in spezifischen Funktionsbereichen, aber ob diese so ausschließlich sind, daß sie verschiedene diagnostische 'Schubladen' rechtfertigen, darüber wird zur Zeit in der akademischen Literatur debattiert.


     Wir müssen auch noch die höheren Levels des Ausdrucks ausloten und ab welchem Punkt eine Entwicklungsstörung eine Persönlichkeitsstörung wird oder einfach eine Art der Persönlichkeit ist. Wir wissen, daß einige Individuen mit Asperger Syndrom spezifische Fähigkeiten verbessern, und effektiv ihr ungewöhnliches Profil an Fähigkeiten tarnen können. Einige Kapazitäten halten die Diagnose zurück für nur die, die significant behindert sind, während andere, so wie auch der autor dieser Zeilen auch jene mit einbeziehen würde als 'Rest-Asperger Syndrom habend', die erfolgreich auf der Arbeit, verheiratet und ohne Notwendigkeit einer psychiatrischen Behandlung leben.

     Ein weiterer Weg zur Diagnose ist die Diagnose eines Verwandten mit Asperger Syndrom oder Autismus und das Wissen in der betroffenen Familie führt dann zu der Identifikation anderer auch aus anderen Generationen, die die Charakteristiken teilen. Kürzliche Untersuchungen über die Genetik des Asperger Syndroms hat einige interessante Resultate erbracht.. Eine Studie der Yale Universität untersuchte die Profile von 99 Familien die ein Kind mit Asperger Syndrom hatten. Bei 46% der Familien fand man eine positive Familiengeschichte des Asperger Syndroms oder etwas sehr Ähnlichem unter den Verwandten ersten Grades. Was als weitläufigeres autistisches Erscheinungsbild bezeichnet werden kann, ist möglicherweise verbreiteter in betroffenen Familien als wir zuerst dachten. Zur Zeit haben wir keine klaren Richtlinien, ob solche Individuen eine Diagnose des Asperger Syndroms bekommen sollten, oder Rest-Asperger Syndrom, genetischer Teil des weitläufigeren autistischen Erscheinungsbildes, oder (des Autors bevorzugter Begriff) die Asperger'sche Persönlichkeit zeigend.

     Wir wissen auch, daß die Geschwister eines Kindes mit Asperger Syndrom oft das zeigen, was der Autor als "Fragmente" des Asperger Syndroms bezeichnet in ihrem Profil an Fähigkeiten. Die individuelen Charakteristiken mögen nicht ausreichen in Anzahl oder Schweregrad um eine klare Diagnose stellen zu können, aber wenn wir unsicher sind wo die Grenzen liegen zwischen der Normalen Toleranzbreite und dem Beginn des Asperger Syndroms, dann können solche Kinder von einigen Kliniker als 'mit' Diagnose gehandelt werden, insbesondere wenn dies zu einem besseren Verständnis der Person führt und Zugang zu Förderprogrammen liefert, die als effektiv für jene gelten, die das Vollbild des Syndroms zeigen.

     Ein vierter Weg ist eine doppelte Diagnose. Des Autors klinische Erfahrung zeigt, daß eine ansteigenede Anzahl von Kindern, die wegen Aufmerksamkeits Defizit Störung vorgestellt werden, kurze Zeit danach die Diagnose Asperger Syndrom erhalten. Die Anzeichen für ADS sind gut bekannt und können schon bei sehr kleinen Kindern identifiziert werden, aber Spezialisten für ADS merken immer deutlicher die Notwendigkeit, auch nach einer anderen Störung zu screenen, die mit ADS oft assoziiert wird, und dies führt ebenfalls zu eine Ansteigen der Vorstellungen und bestätigten doppelten Diagnosen.


     Der gegenwärtige Autor hat bemerkt, daß bei einigen vorgestellte Personen eine Kombination aus vier verschiedenen aber vermutlich miteinander in Verbindung stehenden Störungen festgestellt und diagnostiziert wird. Die typische Reihenfolge ist es, zuerst Anzeichen für ADS zu identifizieren, nachfolgend Symptome des Asperger Syndroms, danach mimische, motorische, vokale und verhaltensmäßige Tics, assoziiert mit dem Tourett Syndrom, und schlußendlich eine Affektstörung wie Zwangsstörungen.

     Der fünfte Weg ist die Diagnose einer sekundären psychiatrischen Störung, zum Beispiel Depression. Die Depression kann typische klinische Anzeichen liefern, aber bei einigen Personen sind Episoden extremen Ärgers und der Mißbrauch von Gegenständen die ersten Anzeichen. Kliniker bestätigen oftmals eine Diagnose über Asperger Syndrom basierend auf der Entwicklungsgeschichte der Person wie auch dem Profil der Fähigkeiten und auch der Tatsache, daß die Person eine reaktive, externalisierte Depression (Der Fokus des Ärgers ist eher auf andere als auf sich selbst gerichtet) oder Alkohol und Nicht-verschreibungspflichtige Medikamente als eine Art Selbst-Medikation eingenommen werden. Psychiatrische Dienste werden sich erst langsam des Wertes eines Screenings für Asperger Syndrom bewußt, das mit einer Reihe anderer psychiatrischer Störungen assoziiert werden kann.

     Der sechste Weg ist eine Diagnose, die eine Peron in erwachsenen Jahern erhält. Dies kann geschehen durch ein Erkennen des syndromspezifischen Profils durch Arbeitsämter, dadurch, daß die Person selber Informationen in der Presse liest oder eine Dokumentation im Fernsehen sieht oder sogar des Rechtssystems, was das Profil erkennt. Ich möchte nun noch einen weiteren Mechanismus hinzufügen, nämlich bei der Partnerberatung oder dem erkennen des Syndroms durch den Partner einer Person mit Asperger Syndrom. Kürzlich hatte ich eine Erhöhung der Anzahl an Vorstellungen von Damen, die einen Termin vereinbarten, weil sie glaubten, ihr Ehemann habe Asperger Syndrom. Der Partner liest über Asperger Syndrom und realisiert, daß dies iher beziehungsprobleme erklären könnte. Jedoch muß man auch daran denken, daß nciht alle 'Männer, die sich schlecht benehmen' Asperger Syndrom haben.

     Ein neuer und siebter Weg ist die posthume Diagnose. Wir stellen fest, daß Menschen mit Asperger Syndrom eine andere Art zu Denken haben, und einige bemerkenswert kreativ und scharfsichtig sind. Diese Charakteristiken können zu einer erleuchteten Karriere in den Wissenschaften oder Künsten führen. In der Tat ist es die Meinung des Autors, daß wir Menschen mit Asperger Syndrom brauchen, um die Verbesserung der Lebensqualität voranzutreiben. Zur Zeit untersuchen wir die Biographien und Autobiographien von berühmten verstorbenen Wissenschaftlern, Ingenieuren, Politikern, Autoren und Komponisten und stellen fest, daß bei einigen eine ungewöhnliche Kindheit und ein ungewöhnliches Profil der Fähigkeiten auf Asperger Syndrom hinweisen könnten. Beispiele möglicher 'Asperger Verwirklicher' waren Albert Einstein, Thomas Jefferson, Mozart, Ludwig Wittgenstein, Glenn Gould und Alan Turing. Der Autor kennt außerdem mehrere Erwachsene mit Asperger Syndrom, die bemerkenswert begabt darin sind, Anzeichen für Asperger Syndrom in zeitgenössischen Wissenschaftlern, Schauspielern, Rock Musikern und Autoren zu identifizieren. Zum jetzigen Zeitpunkt bleiben solche potentiellen Diagnosen rein spekulativ, aber solche leuchtenden Vorbilder können wertvolle Helden ausmachen für Kinder mit Asperger Syndrom.


     Ein weiterer Faktor, der einen Anstieg an Vorstellungen/Überweisungen erklären könnte, ist unser wachsendes Verständnis des Profils der Fähigkeiten bei Mädchen und Frauen mit Asperger Syndrom. Dieses Profil kann spezielles Interesse an Tieren, klassischer Literatur und Schauspielerei beinhalten, eher als Transport, Computer und Elektronik. Mädchen mögen begabter sein als Jungen, soziale Fertigkeiten durch Beobachtung und Nachahmung zu lernen, und sie sind vermutlich weniger auffällig im Klassenraum, da andere Mädchen sie eher 'bemuttern' und schützen, und sie nigen weniger dazu zu stören und Ärger zu verursachen.

     Ein Faktor, der die Diagnose Asperger Syndrom zurückhalten könnte, wäre der, daß die Regierung keine Gesetze und Resourcen für solche Individuen hat, und um an diese Dienste heranzukomen müssen alternative Diagnosen schriftlich festgehalten, oder im Bericht des Klinikers vermerkt werden. Zum Beispiel kann es sein, daß einige Kinder nur dann Unterstützung in der Schule erhalten, und Eltern nur dann gesetzliche Zugeständnisse bekommen, sowie medizinische Versorgung, wenn das Kind die Diagnose Autismus erhält. Kliniker schreiben dann vielleicht in ihren Bericht eher Autismus als Diagnose, als die genauere Diagnose des Asperger Syndroms. Dies ist natürlich insbesondere dann relevant, wenn man bedenkt, daß anfängliche epidemiologische Studien gezeigt haben, daß etwa eine von 250 Personen Anzeichen für Asperger Syndrom zeigt. Die Regierung und auch die Behörden, insbesondere die für Erziehungs- und Bildungswesen zuständigen, haben gewöhnlich niemals Resourcen für solche Fälle erhalten und zögern nun, die 'Schleusentore zu öffnen'.

     Zusammenfassend, gibt es eine Epidemie von Menschen, die mit Asperger Syndrom diagnostiziert werden? Gegenwärtig können wir diese Frage nicht beantworten, da wir unsicher sind über die Diagnosekriterien, die oberen und unteren Level des Ausdrucks des Syndroms und die Grenzen zu anderen Störungen. Nichtsdestotrotz erfahren wir einen gewaltigen Anstieg an Diagnosen, aber dies mag auch durch die vielen Fälle kommen, dielange Zeit auf eine Erklärung gewartet haben. Schlußendlich wissen wir endlich, warum diese Menschen anders sind, und schlußendlich können wir auch lernen, einander zu verstehen.


übersetzt von: Diana Leineweber,
mit freundlicher Genehmigung von Dr. Tony Attwood


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